3. Adventskalendertürchen

"Pilger gibt es, weil es den Camino gibt, und den Camino gibt es, weil es Pilger gibt. Ohne sie wäre er nur ein Weg wie jeder andere. Es ist egal welcher Religion man ange­hört und wie man den Gott nennt, an den man glaubt. Wichtig ist, dass man sich für den Geist des Caminos öffnet, ihn fühlt, ihn erlebt und so selbst zum Geist des Caminos wird. Es geht um den Spirit!"

(Unsere Lieblings-Hospitaleros, Grañon 2009/Bercianos 2010)

 

 

 

Weil wir gestern so schön bei Herbergen waren:

 

Es gibt Herbergen, in denen man halt übernachtet, es gibt schöne Herbergen, es gibt besondere Herbergen und hier und da gibt es magische Herbergen.

 

 

 

Die Albergue, die Thomas und mich am meisten beeindruckt hat, ist die von Grañon und ich bin mir ganz sicher: Die, die sie kennen, bekommen jetzt ein ganz warmes Gefühl im Bauch:

Unter einem Baum in einer Senke treffen wir Cordula, Steffi und John, der uns erklärt, dass sie hier im Schatten Rast gemacht und ein hervorragendes drei Gänge Menü zu sich genommen hätten. Dazu hätten sie einen herr­lichen, spani­schen Rotwein genossen. Naja, der Wein sei ein bisschen verwässert gewesen. Vielleicht war es ja doch kein Wein, sondern nur das, was die Brunnen so von sich geben (und der Brunnen von Irache ist nun doch schon ein paar Kilometer hinter uns).

 

Wir verschnaufen kurz und genießen unserer­seits eben­falls verwässerten Wein ohne Kohlensäure. Um uns herum liegen so viele Pappelpol­len (oh, ist das ein schönes Wort!), dass es aussieht, als hätte es gerade geschneit.

 

Es geht schnurstracks den Berg hinauf. Oben können wir schon Grañon sehen, aber es will und will einfach nicht näher kommen. Das Watscheln wird zu einem echten Gewalt­marsch.

 

Völlig erschöpft und verschwitzt kommen wir endlich an die Kirche, in der sich die Herberge befinden soll. Und die ist Belohnung für alles!

So, meine Lieben, haltet euch fest, denn nun kommt der wohl größte Knaller meiner uner­schöpflichen Weisheit: Pil­gerchen, willst du den Weg nicht nur gehen, sondern ihn erfüh­len, seine Magie kennenlernen und dich wirk­lich von ihm verzaubern lassen, dann verbringe eine Nacht in der Albergue in Grañon! Ist dir das Herz schwer, liegen düstere Wolken auf deiner Seele, dann verbringe eine Nacht in der Albergue in Grañon. Gerätst du ins Zweifeln, ob du deinen Weg fortsetzen willst, ob es dein Weg ist, diesen Weg zu gehen, dann verbringe eine Nacht in der Albergue in Grañon. Willst du dir einfach nur etwas Gutes tun, den Geist des Caminos erle­ben, großartige Herbergsväter treffen, die dir alles geben, ohne dafür irgendetwas zu erwarten, dann ver­bringe eine Nacht in der Albergue in Grañon.

 

Der Eingang befindet sich hinter der Kirche an einem von riesigen Bäumen beschatteten Platz. Auf den fünf Bänken rundherum sehen wir ganz viele uns sehr vertraute und liebe Gesich­ter. Ich sag‘s ja: In jeder Herberge ist es ein bisschen wie nach Hause zu kom­men.

 

Wir trauen uns zunächst nicht wirklich, uns durch den schma­len Eingang zu quetschen, doch Julia, die gerade vom Einkau­fen kommt, spricht uns gut zu. „Geht nur rein, da drin ist es so schön!“

 

In den alten, dicken, kalten Mauern ist es so dunkel, dass wir uns erst einmal fast nur tastend vorwärts bewegen kön­nen. Dann fällt ein bisschen Licht durch ein großes Fenster auf eine uralte, von den Füßen unendlich vieler Pilger, die hier in den letzten Jahrhunderten um Obdach baten, völlig ausgetretene Stein­treppe (uh, ist dieser Satz gruselig!).

 

In der ersten Etage kommen wir an einer Türe vorbei, die zu einem Schlafraum führt. Die Herbergsväter sitzen im zweiten Stock und sind gerade beim Essen. Einer von ihnen steht trotzdem sofort für uns auf, begrüßt uns mit einer sol­chen Herzlichkeit, dass wir ganz hin und weg sind.

 

 

 

Weil er nicht Deutsch spricht, wir dafür aber kein Spanisch, zeigt er auf ein kleines, in liebevoll verschnörkelter Schrift verfasstes Plakat: Willkommen liebe Pilger, fühlt euch wie Zuhause!!

 

Wir werden in dem Schlafraum untergebracht, an dem wir gerade vorbeimarschiert sind. Es ist ein großer Raum mit Fenstern auf der einen Seite. Auf dem Parkettboden liegen in Reih und Glied Sportmatten. Aber nicht diese blauen, harten Plastikdinger, die wir aus unse­ren Turnhallen kennen. Nein. Diese Matten sind aus dunkelbraunem Leder, wie es sie nach dem Krieg gegeben hat. Alleine, auf solchen Antiquitäten schlafen zu dürfen, ist etwas Besonderes.

 

Wir stellen unsere Sachen ab und gehen duschen, was sofort all unsere todmüden Lebensgeister wieder auf Vor­dermann bringt. Das Wasser kommt offensichtlich direkt aus einem Brunnen, der mindestens 100 m tief sein muss, wenn nicht noch mehr. Es als eiskalt zu bezeichnen, wäre schlicht­weg unter­trieben. Trotzdem genieße ich es, es über mei­nen durch und durch schwitzigen Körper plät­schern zu lassen.

 

Als ich mich gerade aus der Dusche herausbibbere, kommt Pam herein. Ich bin ja ein guter Mensch und warne sie, doch sie ist so eine gestandene Frau und hart im Nehmen – pfff! -, sie probiert es trotzdem. Hihihi, ihr solltet mal sehen, wie schnell sie ihre Meinung ändert! So kalt hat sie sich das nicht vorge­stellt! Hupsend und schreiend beschließt sie, den Rest des Tages stinkend zu verbringen. Sie selbst hat sich immerhin an ihren eigenen Körperge­ruch gewöhnt!

 

Der Trockenraum befindet sich direkt über dem Kirchen­schiff. Er erinnert mich an die Dachböden aus kitschigen amerikanischen Fil­men, auf die sich Kinder zurückziehen, um ihre Träume zu träumen oder eine Tür zu einer bunten, aufregenden Fantasiewelt zu finden. Und mittendrin steht eine Waschmaschine!

 

...

 

Um 20.00 Uhr gibt es tatsächlich ein gemein­sames Abend­brot. Wir können es gar nicht glauben. Noch vor zwei Stun­den standen unsere drei Herbergsväter im Gemeinschafts­raum und bohrten, schraubten und hämmerten an den Tischen herum. Inzwischen haben sie es nicht nur geschafft, die wieder so herzurich­ten, dass sie nicht zusammenklappen, sondern ganz nebenbei ein leckeres Essen gezaubert.

 

Als wir alle Platz genommen haben, stellen sich die Hospi­taleros (Herbergsväter) vorne auf, begrüßen uns noch einmal und sprechen ein Tischgebet, das wohl mit piep, piep, piep, guten Appetit endet.

 

Es gibt als Vorspeise Salat, danach Nudeln in einer Soße aus Tomaten, Hackfleisch, Würst­chen und allem, was der Kühl­schrank oder der Supermarkt im Wohnzim­mer gegen­über hergegeben hat. Es sieht interessant aus, aber es schmeckt richtig lec­ker. Dazu wird das obligatorische Weiß­brot herumgereicht. Zum Nachtisch türmen sich Äpfel und Orangen in riesigen Schalen.

 

Zu trinken gibt es nicht nur Wasser aus Karaffen, sondern auch Rotwein. Zum ersten Schluck erheben sich unsere Her­bergsväter mit ihren wohlgefüllten Gläsern, schmettern inbrünstig und lautstark dreistimmig einen sicherlich nicht undeftigen Trinkspruch und das Besäufnis kann beginnen.

 

So lecker alles ist, so wenig kann ich leider essen, denn mein Bauch ist voll von der Herzlichkeit dieses Ortes und seiner drei Herbergsväter. Die sind mir direkt in mein umfänglichstes Körperteil gefahren und machen sich dort derart breit, dass auch die schmackhafteste Nahrung darin keinen Platz mehr findet. Außerdem bin ich völlig mit gucken und hören beschäftigt. Ich will nicht einen Moment verpassen oder vergessen. Es ist sooo schön!

 

Wer denkt, dass bei so vielen verschie­denen Nationen, aus denen wir kommen, die Unterhaltung eher leise und seicht verläuft, irrt sich gewaltig. Es ist ein wildes Durchein­ander aller möglichen Sprachen. Jeder dolmetscht so gut er kann und versucht gleichzeitig, irgendetwas Brauchbares von dem von anderen Übersetz­ten aufzufangen: Einer sagt etwas in Spanisch, das ein Italiener ins Französische bringt, woraufhin ein Engländer in Deutsch sagt, was er vom ita­lienischen Französisch so verstanden hat. Am Ende werden aus den Hühnern in Santo Domingo de la Calzada Läuse mit Elefan­tenohren, die auf Besen reiten, und aus dem liebestollen Mädchen eine alte Schabracke, die den Pferdemetzger in einem Becher Fencheltee ersäuft hat. Aber das macht gar nichts, denn alle haben einen Heidenspaß dabei.

 

Aber soll ich euch etwas verraten? Ich glaube, den größten Spaß hier im Raum haben die drei Herbergsväter selbst. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel, sehe ihre Freude und bin bis ganz tief in mich hinein bewegt. Noch heute (also zu Hause an meinem PC, wo ich das alles aufschreibe) kriege ich eine Gänsehaut, wenn ich an sie denke.

Text: "Weiter, weiter, immer weiter!"

Fotos: Albergue Grañon