Ich hab trotz Ruhe nur sehr wenig geschlafen. Ich bin viel zu aufgeregt, weil ich heute meinen „Einlauftag“ habe.
Ich laufe ganz bewusst alleine in die Stadt hinunter und fühle mich ein bisschen, wie husten gewollt und keinen Hals gehabt. Meinen Rucksack habe ich in der Herberge gelassen, in der ich drei Nächte bleiben kann. Ich hatte keine Lust, ihn noch einmal zu packen, noch einmal zu tragen und mir noch einmal eine Unterkunft zu suchen. Der Monte do Gozo ist zwar ein Stückchen weit weg, aber nach diesem letzten Marsch werde ich einfach den Bus nehmen. Aber jetzt fehlt mir meine Kiepe eben doch. Hm.
Und ein bisschen fehlen mir auch meine Wanderschuhe. Ich trage meine Sandalen, weil es ja (noch) trocken ist und ich meinen Füßen frische Luft gönnen wollte und die freuen sich auch, aber mein Bauch fühlt sich dabei irgendwie komisch an. Na gut. Jetzt bin ich unterwegs, jetzt zieh ich das so durch.
Ich komme auch ganz bewusst alleine an die Kathedrale. Nachdem ich letztes Mal hier mit Thomas stand, möchte ich diesen Moment mit niemandem sonst teilen. Aber soll ich euch etwas sagen: Das war alles eine ziemlich blöde Idee! Ab dem Moment, wo ich alleine weitergelaufen bin, war alles eine blöde Idee! Aber so was von! Weil jetzt hab ich den Schlamassel, jetzt stehe ich da, mutterseelenallein und von aller Welt verlassen und heule mir ganz allein die Augen aus dem Kopf … weil ich angekommen und allein bin. Na, das ist doch schön!
Weil von Alexandra und Stefan auch nix zu sehen ist, gehe ich in die Kathedrale und komme, weil ich auch noch den Eingang dazu suchen muss, ein bisschen zu spät aber gerade noch eben zur deutschen Messe in dieser kleinen Barockkapelle direkt hinter dem Schrein, ihr wisst schon, der mit den großen Engeln oben. In einem so kleinen Kreis an einem so kleinen und schönen Platz an einer Messe teilzuhaben, ist schon für sich sehr ergreifend, aber weil ich sowieso ergreift bin, ergreift mich das große Heulen nun endgültig. Als ich mich nachher auf den Weg zum Pilgerbüro mache, um dort wieder doof alleine und wenig dekorativ in der Gegend herumzustehen, kommen mir lauter Mitarbeiter der Kathedrale mit Saugschläuchen und Pumpen entgegen, um den Schaden wieder zu beheben, den ich angerichtet habe.
Um Punkt 9.00 Uhr (naja, nach dem spanischen Punkt eben) erhalte ich meine Compostela, halte sie in der Hand und bin ein bisschen … verdutzt. Hier ist also wieder einmal Ende. Hm. 500 km bin ich gelaufen und jetzt bin ich da und das ist so … unspektakulär. Keine dicke Traube singender, johlender und sich freuender Mitwanderer, kein Schulterklopfer, noch nicht einmal jemand, der ein Foto mit mir und meiner Kostbarkeit machen könnte. Ich hab sie halt und fertig. Hm. Draußen im Hof setze ich mich auf ein Mäuerchen und betrachte die Rolle. Hm. Da kommt ein Mitarbeiter und macht den Fehler seines Lebens: Er setzt sich neben mich und legt den Arm um meine Schultern. Kinders, das hätte er lieber bleiben lassen! Irgendwann verlässt er mich kurz und kommt mit einer Rolle Klopapier wieder, aber ansonsten ist er die ganze Zeit für mich da und hält mich einfach nur im Arm wie ein kleines Kind, dessen Lieblingsteddy sich plötzlich und völlig unerwartet selbst zerstört hat und das nun vor einem Häuflein Stopfhinein ganz mit ohne Fell, Händen, Armen und Kopf sitzt. Hm.
Irgendwann rappele ich mich dann doch auch wieder auf und tappsele ein bisschen tüddelig zurück zum Kathedralenvorplatz, um zu gucken, ob da nicht doch irgendwo irgendein bekanntes Gesicht zu erspähen ist, da öffnet sich über mir ein Fenster und ein sehr leicht bekleideter Herr ruft herunter: „Andrea!“ Achim, mit dem ich ganz viele schöne Abende verbracht habe, ist gerade erst aus seinem Bett aufgestanden. Naja, ob ich mir dann als erstes den Anblick meiner Herrlichkeit antun wollen würde, das möchte ich nun doch ziemlich ausdrücklich dahingestellt lassen, aber der Anblick seiner, bis auf eine Unterhose noch unbekleideten Herrlichkeit – da geht mir im Bauch die Sonne auf (obwohl es gerade da anfängt zu regnen).
Auf dem Platz dagegen ist immer noch niemand zu sehen. Weil mir gerade nix Besseres einfällt, bleibe ich kurz stehen. So, und nun schaltet mal bitte euer Kopfkino an: Ein kleines, pummeliges, nicht mehr ganz frisches Weiblein in grob mit der Hand ausgewaschenen und ganz abgeschrubbelten Klamotten steht mit Sandalen auf dem regennassen Vorplatz einer Kathedrale, ganz weit weg von Heim, Hof und allen, die sie kennen. Wenn sie jetzt gerade mal nicht heult, dann nur, damit sie damit wieder anfangen kann. Da steht sie, einsam und verlassen und guckt Löcher in die Luft. Da kommt von rechts eine Stimme und spricht: Bist du Andrea? Könnt ihr euch vorstellen, wie sich das hutzelige Weiblein in diesem Moment fühlt? Hihi, aber wenn ihr jetzt auf eine leuchtende Fee mit Glitzerstab und güldenem, lockigen Haar wartet, tut mir das wirklich leid. Die Stimme kommt aus einem männlichen Gesicht mit dunkelgüldenem und sehr kurzen Haar in schwarzer Jacke. Aber das ist dem ollen, hutzeligen Weiblein gerade mal ganz egal.
Es ist Roland, noch ein Mitglied des Pilgerforums, der in meinen Posts gelesen hat, dass ich heute hier ankommen würde. Und da dachte er sich, dass es doch nett sei, wenn da jemand wäre, der mich erwartet. - Ähm. Nett? Nein. Ich finde das ehrlich gesagt nicht nett. Ich finde das eher unbeschreiblich! Und weil er nun mal schon so gut angefangen hat unbeschreiblich zu sein, macht er damit einfach weiter und mir diesen Tag zu einem Geschenk, dafür gibt es keine Worte:
Wir gehen Kaffee trinken, er zeigt mir Santiago von einer Seite, nach der hätte ich alleine niemals gesucht, wir schlendern zusammen durch die Markthallen, machen Pilgerpowershopping, er stürmt mit mir ein Schuhgeschäft, in dem ich meine völlig durchnässten Füße in wohlig warme neue Schuhe verpacken lasse und ist den ganzen Tag einfach nur für mich da. Es ist so … Heideröslein!
Nur am Mittag verlassen wir uns gegenseitig für zwei Stunden, weil er seine Mitläuferinnen zum Bus bringen und ich die Messe besuchen möchte zu deren Abschluss der Botafumeiro geschwungen wird. Da treffe ich einen anderen Stefan und Dennis wieder, die mir erzählen, dass Alexandra auch hier im Gottesdienst ist. Endlich können wir uns umarmen! Dann verlieren wir uns auch leider schon wieder im Trubel. Aber das ist nicht schlimm, denn am Abend kriegen wir uns in einem Café doch wieder zusammen und halten ein kleines Forumstreffen mit Roland ab. Lach! Das muss man sich mal vorstellen: Da sind drei, die sich außer im Internet gar nicht kennen, zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt irgendwo ganz weit weg und reden, als hätten sie schon im Sandkasten zusammen gespielt! Kinders, wenn das nicht grandios ist, muss dieses Wort neu definiert werden!
Um diesen rundum perfekten Tag (naja, wenn man die ersten drei Stunden mal nicht mit einrechnet) rundum perfekt abzuschließen, zeigt Roland mir eine kleine, sehr einfache Gaststätte, in der wir beiden die einzigen Nichtspanier sind. Wir essen Pulpo und Tintenfisch in eigener Tinte (ähm, also der ist jetzt wirklich ein bisschen gewöhnungsbedürftig, weil die Soße sieht nun nicht so aus, als wenn ich mein Brot hineintunken möchte, aber er schmeckt auch lecker, wenn auch ein bisschen sehr nach Grünkohl) und trinken Wein aus Schälchen. Kinders, ist das fein! Und darf ich mal etwas sagen? Ich verstehe es einfach nicht, warum so viele Wanderer sich immer ein Pilgermenü suchen. Das ist zwar auch fein und lecker und das Zusammensitzen auch etwas Besonderes, aber so ab und zu sollte man auch mal einfach in die Kneipen gehen, in denen nur Spanisch gesprochen wird. Na gut, also die Schweinsohren an Helgas letztem Abend, die habe ich jetzt auch nicht haben müssen, aber es gibt doch noch soooo viel anderes!
Als ich im Bus sitze, bin ich voll mit Eindrücken, voll mit warm im Bauch. Dann komme ich an mein Bett und finde auch noch einen Zettel in koreanischer Schrift. Ist das lieb? Ich kann zwar nicht lesen, was mit meine letzte Mitschläferin noch sagen wollte, aber für mich ist dieser Zettel ganz dolle wertvoll. Na gut, vielleicht steht da ja auch gar nichts Nettes, sondern: „Du altes, pummeliges Weiblein hast heute Nacht geschnarcht, dass im Umkreis von 10 km alles reisausgenommen hat, was konnte!“ Aber solange ich das nicht besser weiß, gehe ich einfach davon aus, dass er mir ein lieber Gruß sein sollte.
Erkenntnis des Tages: Man soll nie den Tag vor dem Abendessen beschimpfen, denn was grausig beginnt, kann ganz wunderbar werden!