Meinen letzten Lauftag beginne ich sehr früh. Irgendwann wutschen diese blöden Stirntaschenlampen durch den Raum. Mal ehrlich: Würden die einfach das Licht einschalten, wäre das längst nicht so unangenehm für die Mitschläfer, als diese Dinger. Dann wäre halt Licht – nicht schön, aber gleichmäßig. Da könnte man denken: Na gut, jetzt ist es halt hell. Dann könnte man die Augen wieder schließen und weiterschlafen. Aber diese Hupflichter, die mal nach hier und nach da leuchten, die lassen einfach kein na gut zu.
Trotzdem stören die mich eigentlich weniger, weil ich mir angewöhnt habe, meinen Buff, den ich eh nachts über die Ohren ziehe, damit ich die Stöpsel nicht verliere, auch über die Augen zu ziehen. Das sieht für die, die mir beim Schlafen zugucken, vielleicht ein bisschen dusselig aus, aber dann sollen sie mich eben nicht angucken. Fertig.
Wovon ich eigentlich wach werde ist, dass mein liebenswerter Nebenschläfer sich lauthals mit seinem befreundeten Bettnachbarn darüber ereifert, dass die Stirntaschenlampen wutschen. Das höre ich dann auch mit Stöpseln.
Oh, ich muss noch unbedingt sagen, dass ich psychologische Ohrenpfropfen habe. Lacht nicht! Das ist total lustig: Ich höre kein Schnarchen, aber dass es heute Nacht geregnet hat, das habe ich gehört und gedacht: Nee, ne! Jetzt geht mein Camino so zu Ende, wie er angefangen hat, im roten Poncho.
Wie auch immer, wach bin ich jetzt eh und alle anderen ja auch, also packe ich meine Sachen und schleich mich. Draußen ist es noch ganz duster. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Und was das Schönste ist: Ich habe heute wirklich noch einmal den Weg für mich ganz allein. Vor mir nur ein koreanisches Ehepaar, aber nur gerade so nah, dass ich ihnen hinterher laufen kann, ohne selbst auf gelbe Pfeile achten zu müssen, hinter mir keine Stupfelstöcke und um mich herum das, was ich so liebe an diesem Weg: Bäume, huppelige Wege, Steinmauern und gruselige Stimmung. Das ist doch fein! Da macht das Laufen Spass, auch wenn es noch so früh ist.
In dem Café, in dem ich frühstücke, treffe ich Stefan, der auch aus Deutschland kommt. Aber als ich komme, ist er schon fast wieder weg. Schade. Na gut, dann genieße ich eben einfach nur meinen Kaffee und mein Schokocroissant, das hier übrigens Neapolitan heißt und fast immer heiß serviert wird. Miam miam miam.
Irgendwann verfinstert sich der Himmel und es fängt an zu regnen. Na klasse, also doch wieder Poncho. Ich schaffe es noch fast trocken in eine Bar, trinke da einen Kaffee und richte mir meinen Überzieher, den ich den Rest des Tages schauerweise über mich lupfen werde.
In Lavacolla wird mir langsam das Herz schwer. Hier haben wir letztes Mal mit Hannes gesessen, kurz Pause gemacht und sind dann allen anderen weiter hinterher gelaufen. Aber jetzt ist da keiner, der mich zieht, keiner der mich lockt. Heute bin ich hier ganz allein. Nein, schön fühlt sich anders an.
Bin ich froh, dass da Stefan kommt und sich zu mir setzt. So bin ich wenigstens nicht ganz so allein. Und noch mehr froh bin ich, dass er auch zum Monte do Gozo laufen will. Da bin ich da auch nicht ganz so allein, und wenn er sich nicht gebührend um mich kümmert, hocke ich mich einfach hin und heule so lange, bis er so ein schlechtes Gewissen hat, dass er es doch tut. So.
Das letzte Stück ist nicht sooo grauselig, wie ich es in Erinnerung habe. Aber da war ich auch viel müder, als ich ging. Heute fühle ich mich sogar noch relativ frisch. Hihihi, hört sich das „frisch“ doof an, aber man beachte bitte das „relativ“, das dann doch wieder vieles relativiert.
Weil ich ja weiss, was mich erwartet (nämlich außer, dass ich mich ziemlich flüssig fühlen werde, weil der Weg nun wirklich zu Ende ist und dass mich eben niemand erwartet), fange ich schon sehr rechtzeitig an, in mein abgewubbeltes Taschentuch zu schnäuzen. Und glaubt mir, ich habe jeden Grund dazu, denn so viel, wie ich beim Ankommen gerne heulen würde, so viel kann man gar nicht auf einmal heulen. Da ist es gut, wenn man es sich einteilt.
Ich stehe vor der Anmeldung und bin mutterseelenallein. Von aller Welt verlassen. Kein Thomas, der sich um meine Anmeldung kümmert, keine Hände, die sich mir auf die Schultern legen, kein Roland, der ganz erschrocken ist, weil ich wirklich hier bin, keine Silke, die mich in die Arme nimmt, niemand, der mit mir feiert und nach meiner Heulorgie wieder fröhlich mit mir ist … Nix. Ein leeres, graues Nix.
Ich stehe ein bisschen dämlich in der Gegend herum (das kann ich ja eh gut) und gehe dann zur Anmeldung. Und da sitzt ein ganz Lieber, Manuelle (ich glaube jedenfalls, dass das so geschrieben wird, und wenn nicht, wird es eben zumindest so ausgesprochen), der geduldig wartet, bis ich wieder aus den Augen gucken kann und wieder ein Wort herausbekomme, mir seine Hand auf den Arm legt (Heideröslein, endlich!), in mein Credencial guckt und mir seine Anerkennung dafür schenkt, dass ich so weit gelaufen bin und jetzt hier stehe. Ob ich den am Samstag als Handgepäck mit in den Flieger nehmen kann? Den will ich mitnehmen!
Ich kriege ein Zimmer, das ich zunächst ganz alleine für mich habe, und das ist auch gut so. Es dauert eine Weile, bis ich zum Duschen gehen kann, und in dieser Zeit will mich ganz bestimmt niemand sehen.
Nachdem ich dann doch endlich auch den Regen von meinem letzten Lauftag von mir gewaschen habe, wackele ich noch einmal nach San Marcos hinein, um zu gucken, von wo mein Bus zum Flughafen fährt. Da, wo mich Manuelle hingeschickt hat, gibt es gar keine Haltestelle, nur gegenüber. Und gegenüber ist eine ältere Dame, die ich in meinem mehr als bescheidenen Spanisch versuche zu fragen, ob von aqui der Autobus zum Aeroporto fährt. Ihre Antwort ist so umfassend und langatmig, dass nach und nach noch drei ältere Damen dazukommen und ich mich – schwups – in einer lautstarken Diskussion befinde, in der man mir wahrscheinlich die Strickung von linken und rechten Maschen versucht zu erklären. Sie gucken mich immer wieder wissenmittelend an, aber ich verstehe kein Wort und bin schlichtweg komplett überfordert. Es dauert eine Weile, bis ich mich dankend aus der Situation winden kann. Im Restaurant gegenüber (also da, wo die Bushaltestelle eben nicht ist) sagt man mir dann, dass ich mich einfach hinstellen, auf den Bus warten und ihm winken soll. Oookaaayyy. Hm. Pfff. So richtig befriedigt mich das jetzt nicht, aber wenn die sagen, dass das so ist … werde ich mir auf alle Fälle für den Notfall noch die Telefonnummer vom nächsten Taxiunternehmen geben lassen.
Am Ende des Tages sitze ich mit Stefan in der Bar dieser Riesenanlage, knabbere an einem heißen Bocadillo und schlabbere meine Cola. Er war die ganze Zeit vor mir, da müsste er doch auch Alexandra und Julian über den Weg gelaufen sein. Ja, eine Alexandra kennt er, wie die denn aussehen würde? Ja nun, das weiss ich jetzt nicht. Ich kenne sie ja nur vom Schreiben im Internet. Und wie Julian aussieht, weiss ich auch nicht. Ich weiss ja nur von seiner Mutter, dass er auf dem Weg ist. Lach! Ich möchte nicht wissen, was da in Stefans Kopf so herumwupst. Weil ich hier WiFi habe und es mir irgendwie ganz komisch ist mit meiner Suche nach Unbekannten, gucke ich, was sich so in meinen Nachrichten getan hat, und siehe da: Da ist eine Mitteilung von Alexanddras Mann, in der er mir ihre Handynummer schreibt, bei der ich auch gleich anrufe … und mitten hineinplatze in den Moment, in dem sie ihre Compostela bekommt. Ich und mein Timing sind einfach genial! Etwas später kriege ich sie doch noch an die Strippe und wir verabreden uns für den nächsten Morgen um 8.00 Uhr auf dem Platz vor der Kathedrale.
Inzwischen liegt noch eine junge Dame aus Korea in meinem Zimmer, die ganz unglücklich ist, weil ihre Füße schmerzen und nicht wirklich gut aussehen. Ich habe noch eine brandneue Tube Salbe gegen Fußpilz und alle möglichen Wehwehchen in der Tasche, die ich ihr reiche. Ich brauche sie ja nicht mehr und ihre Treterchen sehen so aus, als würden sie sich über alles freuen, was auch nur annähernd pflegend und gutriechend ist. Sie nimmt sich nur ein Tröpfchen, aber ich nehme die Tube nicht zurück. Da ist die ganz aus dem Häuschen, wuselt von irgendwoher eine Münze aus Paris und reicht sie mir. So, und jetzt kriegen wir ein mendalitätisches Problem: Ich habe ihr meine Creme nur zu gerne gegeben, will dafür ganz bestimmt nix haben und lehne freundlich ab … woraufhin ihr Gesicht ganz komisch und betroffen wird. Dass ich ihr damit, dass ich ihr Geschenk nicht annehmen möchte, eine Unfreundlichkeit erweise, das wollte ich nun ja auch wirklich nicht, aber als ich die Münze annehme, fühle ich mich ziemlich schäbig. Dafür strahlt sie nun wieder und dankt mir mit allen möglichen vorgesprochenen Texten, die ihr Handy an Dankeschöns so hergibt (sie spricht selbst nur Koreanisch). Und dann verbringen wir zu zweit alleine die ruhigste Nacht, die ich in diesem Jahr genießen darf.