12.05.2013 Mirallos

Ich bin schon frueh unterwegs und geniesse diesen Tag ohne Ende. Da sind all diese Hohlwege, die so nach Geistern und Trollen aussehen, die Steinmauern, die gruenen, saftigen Wiesen, die Baeume, die oben, wo sie irgendwann gekappt worden sind, die neuen und dicken Aeste austreiben. Es sieht manchmal so aus, als wuerde ein Baum aus dem Baum wachsen. Manche von ihnen scheinen ganz eigene Gesichter zu haben. Kinders, das ist das Stueck des Caminos, das ich am allermeisten liebe! Das ist das Stueck, wo ich immer wieder stehen bleibe und mich umgucke, ob nicht von irgendwo ein gefluegeltes Wesen mit spitzer Nase auftaucht. Es kommt tatsaechlich ein gefluegeltes Wesen, ein Zitronenfalter, mein erster Schmetterling, den ich bewusst sehe. Spaeter kommt noch einer; oder ist es der Gleiche?

Ich werde immer wieder ueberholt. Aber das ist fuer mich nur ein zu guter Grund, noch einmal extra stehenzubleiben. Ich will hier niemanden um mich herum haben. Ich will das alles fuer mich ganz allein, troedele und schlendere vor mich hin und geniesse jeden einzelnen Moment.

Aber alle Schoenheit macht nun nicht satt und undurstig. Dementsprechend froh bin ich am Ende auch, als ich in Furela eine Bar finde, in der ich mir eine Tasse Kaffee und ein Stueckchen Muttertagskuchen goenne. Lach! Ja, ich bin auch erschrocken, als Thomas mir eine SMS schickte, er wisse dass ich nicht seine Mutter bin. Hups? Ich bin nicht seine Mutter? Nein, waere auch ganz schlecht moeglich, denn dieser Mann ist ja immerhin schon alt und ich noch lange nicht! Dann stand ich in der spanischen Wildnis und musste laut lachen: Stimmt, heute ist Muttertag! Aber ehrlich gesagt ist mir ein Muttertag im Jahr viel zu wenig. Darum habe ich schon vor ganz langer Zeit beschlossen, dass fuer mich jeden Tag Muttertag ist, weil ich bin ja schliesslich auch jeden Tag Mutter.

Danach habe ich wieder neue Kraft zum Weiterschlendern und schwubsel so vor mich hin, biss ich am Ende richtig erschrecke, als ich ploetzlich in San Mamede bin.

Hier habe ich mir vorgenommen zu gucken, was meine Fuesse so sagen und dann entweder zu bleiben oder weiterzulaufen. Aber es ist gerade mal 12.00 Uhr und viel zu frueh zum Bleiben. Ausserdem bin ich heute total gut drauf. Also gehe ich bis Sarria, trinke da noch eine Cola und esse ein Stueck Brot mit Kaese und trottel so weiter vor mich hin.

Ich bin den ganzen restlichen Nachmittag fast mutterseelenallein auf dem Weg. Nur zwei junge Spanier ueberholen mich, die ich schon aus San Nicolas kenne (einer von ihnen schlief mit seinem Hund draussen und der andere spielte einen Flamenco auf der Gitarre; ich habe die beiden in den letzten Tagen immer wieder gesehen, aber voellig vergessen, dass wir schon gemeinsam uebernachtet haben. Aber irgendwie verwischt im Moment so viel und ich kriege so viele Gesichter und Zusammenhaenge gar nicht mehr auf die Reihe), ein brasilianischer Papa mit Sohn  und zwei Franzosen. Ansonsten habe ich den ganzen Camino fuer mich ganz alleine! Ist das zu glauben? Hallo! Das ist die Strecke, auf der ich im letzten Jahr eine Ewigkeit warten musste, weil eine "Dame" ihre Dehnuebungen quer zum engsten Stueck des Weges vollwfuehrte, wo ich mit der Nase auf das Tagesrucksaeckchen einer anderen "Pilgerin" knallte und mich dafuer habe fuerchterlich beschimpfen lassen muessen. Und jetzt? Ich und sonst niemand! Ist das klasse!

Aber ich bin ja auch ein schlauer Fuchs. Wenn morgens die 100 km-Pilger losgehen, bin ich schon ein ganzes Stueck voraus und habe so viel Vorsprung, dass die mich erst einholen, wenn sich der Klumpen ein bisschen aufgelockert hat (wobei, ehrlich gesagt habe ich gar keine 100 km-Pilger in Sarria gesehen, aber die kommen bestimmt noch!). Und wenn ich azyklisch oder so laufe, dann habe ich auch ganz bestimmt keine Schwierigkeiten, ein Bett zu kriegen.

Aber ich will ja noch gar kein Bett, noch lange nicht. Ich bin so eingeschlendert, dass meine Fuesse sich von ganz alleine bewegen und ich ganz viel Zeit zum gucken habe. Ich mag gar nicht aufhoeren zu laufen!

Und dann packt mich auch ein ganz kleines bisschen der Ehrgeiz. Irgendwie wuerde ich heute schon auch gerne die 100 km knacken. Und wenn ich diesen Stein passiert habe, dann schaffe ich es morgen vielleicht bis Palas de Rei und kann - nun lacht nich und schimpft bitte nicht - ein bisschen frueher wieder bei meinem angetrauten Ehegockel und Luettchen sein. Na gut, ich gebe es zu: Drei Wochen waren effektiv zu lange. Ich kriege langsam so ein bisschen die Krise. Aber so kurz vor dem Ziel aufgeben, das waere ja mehr als doof. Also ich meine, ich bin ja nicht immer die Kluegste (uebrigens auch dann nicht, wenn ich denke, dass ich ein echter Fuchs bin, aber das kommt noch gleich), aber da waere ich ja nun echt von allen Hammeln getreten!

Ich wabsele also vor mich hin und erreiche, nun doch auch ein bisschen muede, den Stein der Steine: Von hier sind es noch 100 km! Das sind 20 Stunden Gehzeit. Das ist doch ueberschaubar. Rein theoretisch koennte ich morgen um diese Zeit dort sein!

 

So, mein Tagesziel ist erreicht. Jetzt brauche ich nur noch ein Bettchen. Gleich in Mamede, also dem Ort direkt hinter dem Stein, gibt es eine Herberge, von der die, die draussen sitzen, ganz begeistert sind. Ich habe sowieso gerade mal fuer fuenf Minuten keine Lust mehr zu laufen und gehe hinein ... und hoere "completo". Damit sind meine fuenf lustlosen Minuten zwangszuende.

Auf dem Weg zum naechsten Ort kriege ich die Krise. Von hinten naehern sich Stoecke. Hallo! Wenn die mich jetzt ueberholen und mir das letzte Bett wegnehmen, dann gibt es aber sowas von Stress. Eigentlich bin ich ein bisschen schwerfuessig, aber ihr solltet mal sehen, wie sich meine Beine bewegen! Heideroeslein! Ich fliege geradezu ueber Stock und Stein. Nein, ich lasse mir nicht das letzte Bett wegnehmen. Das faellt aus!

Zum Glueck kommt die naechste Herberge schneller, als ich gnadenlos zusammenbrechen kann. Und vor der Herberge steht ein wunderschoenes Schild: We are full today. Weil ich jetzt wirklich noch nicht einmal mehr mit einer Schnecke um die Wette laufen koennte, mache ich mir meine beiden bestockten Feinde (das ist der Papa mit Sohn) zu Freunden und lasse mich mit ihnen gemeinsam auch in der naechsten Herberge abweisen. Geteiltes Leid ist sechsfuessiges Leid.

Wir trotteln gemeinsam weiter bis Mirallos. Ich will jetzt kein Risiko eingehen und mich an die 2-Stempel-Regel halten. Wenn ich mir jetzt hier keinen Stempel geben lasse, glaubt mir ja keiner, dass ich den ganzen Weg wirklich zu Fuss gegangen bin! Also gehe ich in die Bar, lasse mir einen Stempel geben ... und werde gefragt, ob ich ein Bett brauche ... fuer eine Spende. Hihihi, ich moechte nicht wissen, was das Maedel ueber meinen Geisteszustand denkt, als ich sie angucke, als sei gerade ein Weihnachtsbaum aus einer Pfuetze aufgestiegen. Natuerlich will ich! Und ob ich will! Und wie! ... Und ob sie noch zwei Betten fuer meine Stockfeindfussfreunde hat? - Natuerlich! Och, und da steigen auch in vier brasilianischen Augen zweier Generationen Weihnachtsbaeume aus Pfuetzen!

Na gut, ehrlich gesagt bin ich mehr als froh fuer diesen Einmalueberzug, den man uns gibt. Der ist hier mehr als notwendig! Die Betten stehen in einem ausgebauten Stall, sind wild zusammengewuerfelt (da hat es Klappbetten, Indiekisteverschwindenlassbetten und einfache Holzbetten) und die Matratzen ... liegen auf Betten und ein Bett davon ist mir. So.

Aber ehrlich gesagt ist mir einer unserer Mitschlaefer wesentlich suspekter als meine Schlafunterlage. Es ist mir richtig unangenehm, im Hinterhof meine Waesche (auch die fuer drunter) aufzuhaengen, weil er da sitzt und mit einem uralten Transistorradio Musik hoert. Wenn der meine Unterhose klaut, dann leihe ich mir von irgendwoher Stoecke aus oder maltraetiere (ich kann jetzt nicht gucken, ob das richtig geschrieben ist) mit meiner Nagelschere da, wo er bestimmt nicht maldretiert (Alterntivversion) werden will.

Aber sonst muss ich jetzt einfach sagen, dass die hier total lieb sind! Ganz in echt! Als ich nach WiFi frage, fragt mich das Maedel, ob ich auch Internet moechte. Ueber meinen bescheuerten Blick sage ich jetzt gerade mal nix mehr und ueber den Eindruck, den ich hinterlasse, auch nicht. Aber ich kriege so einen ganz kleinen Minilaptop auf den Tisch gestellt und werde ganz nebenbei noch mit Brot und Salami gefuettert! Ist das nicht klasse?!

Also gut, das mit dem ich bin ein Fuchs und laufe azyklisch hat sich damit ja nun auch erledigt, weil ich bin offensichtlich von Fuehsen umzingelt. Na gut. Aber ich glaube auch gar nicht mehr, dass mir sooo viele Geschwollenebrustpilger zwischen die Fuesse huepfen, denn heute ist ja Sonntag und die sind bestimmt alle spaetestens heute morgen gestartet (wobei ich heute so weit gelaufen bin, dass es da morgen doch wieder schwierig werden koennte, wenn die sich vom Fruehstueck aufrappeln und genau dann in Portomarin starten, wenn ich dort bin. Hm. Also eigentlich kann ich machen, was ich will, es ist immer nicht richtig ... es sei denn, ich mache mir die Feinde zum Freund, taetschele ihnen ein bisschen die rosigen Baeckchen und sage: Meine suessen Plattfusslatschis, ich habe euch alle soooo lieb.

Erkenntnis des Tages: Liebe deine Feinde - notfalls so sehr, dass sie vor Entsetzen die Flucht ergreifen (das haette dann auch den Vorteil, dass sie mir in der Pilgermesse in Santiago nicht den Platz wegnehmen, weil sie ja - schwups - durch und fertig sind).