30.04.2013 Carrion de los Condes

Irgendwie haben wir von Tag zu Tag die Hoffnung, dass das Wetter besser wird. Und irgendwie werden wir von Tag zu Tag enttaeuscht. So ein Kaese! Es ist kalt (oh, auch mal wieder, das hat ja schon gefehlt!), es regnet (ach ja, regnen tut es auch mal wieder) und ich koennte jetzt doch langsam einen Krussel kriegen.

 

Die Herberge verlassen wir sehr gerne, wenn nur ... Na gut, Pilgern ist kein Ponyhof, ich weiss. Aber Hallo! So ein Kaese muss es ja nun auch nicht sein. Und schon mal gar nicht so lange!

 

In den ersten beiden Orten ist keine Bar geoeffnet, aber die "Bridge over troubled water"-Bar hat offen (die ist im dritten Ort). Der Kaffee ist nicht wirklich heiss, das Croissant alt, aber wir koennen im ungeheizten drinnen sein und sitzend vor uns hinschnattern.

 

Bis Carrion laufe ich durch wie vom Hammel gebissen. Um mich von dem bloeden Wetter abzulenken, stopfe ich mir Musik in die Ohren. Ob jetzt jemand vor oder hinter mir geht, ist mir jetzt gerade mal wurscht. Ich jaule vor mich hin, was das Zeug haelt! So.  Am Ende vergraule ich sogar den Regen, nur die Kaelte scheint irgendwie taub zu sein.

In Carrion watschele ich stracks auf die Herberge neben der Kirche zu. Da haben wir vor zwaei Jahren auch uebernachtet und das hat mir so gut da gefallen.

 

Wir haben noch ganz viel Zeit, aber ich wetze wie angestupst, weil ich mag mich jetzt wirklich nicht mehr riechen. Und hier hat es eine Waschmaschine! Und einen Trockner! Und meine Klamotten stehen inzwischen vor ... lalalala!

Nach der täglichen Wasch- und Duschorgie passiert etwas, womit ich niemals in meinem Leben gerechnet hätte und was für mich einer der schönsten Momente meines Lebens ist:

 

Helga und ich stehen im Aufenthaltraum der Herberge, als mein Handy lacht (ich hab so ein Geisterbahnlachen als Klingelton, weil ich alle anderen Töne einfach geflissentlich ignoriere; einmal hab ich mich sogar selbst angeschrien, dass ich gefälligst ans Telefon gehen soll, ich taube Nuss - da hab ich mich immer gewundert, wer denn da so unflätig herumschreit ... während irgend etwas nicht näher definierbares an meiner Brust oder an meinem Hintern vibrierte, was ich auch geflissentlich zwar nicht ignorierte, aber doch zumindest einfach nicht zuordnete), ich gehe nach draußen, weil ich ja ein höflicher Mensch bin, nehme den Anruf an und erwarte Thomas zu hören. Doch da erklingt eine weibliche Stimme und teilt mir mit: "Hier ist Silke!" - "Silke? Was für eine Silke?" (also jetzt nicht, dass ich unheimlich viele Silkes kennen würde, aber ich hab ja mit Thomas gerechnet und war gar nicht auf irgendeine Frau und schon gar nicht auf eine mit einem bestimmten Namen vorbereitet) - "Silke!" - "Silke?" - "Ja, Silke!" - "Das ist ja schön! Aber du weißt doch, dass ich in Spanien bin." - "Ja, ich bin auch in Spanien!" - "Nee, ich bin Andrea, ich bin in Spanien, du bist Silke, du bist in Deutschland." (Manchmal schäme ich mich fast selbst dafür, wie kleinkarriert ich denke!) - "Nein, ich bin in Spanien." - "Oookay, und wo?" (Also bitte, das hat nichts mit kleinkarriert zu tun, sondern Spanien ist groß. Hallo! Deutschland besteht ja auch nicht nur aus dem Hofbräuhaus!) - "Ich bin in Carrion." - (Die spinnt!) "Nein, ICH bin in Carrion!" - "Ich bin auch in Carrion und stehe hinter der Kirche!" - (Die Herberge, vor der ich stehe, befindet sich mit dem Bauch zur Kirche gesehen links davon und ist ja dann irgendwie auch hintendran - nur halt anders. Und wenn mein Hirn in diesem Moment neben von hinten nicht unterscheiden kann - Hallo! Da ruft mich jemand an, der eigentlich Hunderte von Kilometern weg sein sollte und mit dem man so gar nicht gerechnet hat, und sagt mir, er sei da, wo ich gerade bin. Also, da kann man schon mal neben und hinten verwechseln!) "Nein, ich stehe hinter der Kirche!" (Ich möchte nicht wissen, wie dämlich ich ausgesehen habe, als ich mich um meine eigene Achse drehte und guckte!) - "Aber ich kann dich doch gar nicht sehen!" - (Natürlich nicht, du Suppenhuhn, weil du doch gefälligst in Deutschland bist!) "Ich dich auch nicht!" - "Also ich stehe hier unten ... " - (Ich drehe mich noch ein bisschen, aber hier gibt es kein unten - na klar, ich bin ja auch nicht hinten!) - "... hinter der Kirche und hier fährt gerade ein weißes Auto vorbei!" - Ich gucke zur Kirche und von links kommt gerade ein weißes Auto. Kinders, ihr habt keine Ahnung, wie viele rote Blutkörperchen in zwei Füßen Platz haben! Jedenfalls haben die von mir sich da alle versammelt, und während ich versuche, zu diesem Auto zu rennen, hab ich das Gefühl, die halten sich am Boden fest, weil irgendwie kriege ich meine Beine ums Verdrüsseln nicht dazu, sich so schnell zu bewegen, wie ich gerne möchte, dass sie es tun! Jedenfalls renne ich so gut ich kann mit diesem blöden Handy am Ohr zur Straße und gucke ... natürlich erst einmal dem weißen Auto hinterher (ich schäme mich auch ganz oft für meine Fähigkeit logisch zu denken!), dann in die andere Richtung, da geht die Straße hinunter, da gibt es ein Unten und mitten in diesem Unten sehe ich eine Gestalt, die sich ein Handy ans Ohr hält und um die eigene Achse dreht (das sieht aber lustig aus!). - "Bist du das da unten?" (Schäm!) - "Ja, ich bin hier und wo bist du?" - "Ich bin hier oben an der Kirche und habe ein Handy am Ohr!" (Wehe, hier sagt jetzt jemand etwas Unflätiges!)

 

Von denen, die die folgende Szene beobachten, wird uns hinterher wiederholt bestaetigt, dass sie mehr als filmreif gewesen sei: Von unten rennt Silke nach oben, von oben renne ich nach unten (bin ich froh, dass es nicht umgekehrt war, weil sonst waere nur Silke gerannt und ich eher gekrochen), wir treffen uns irgendwo in der oberen Hälfte (bergab hat mir keinen wirklich entscheidenden Vorteil gebracht  - aber da war ja auch noch das viele Blut in meinen Füßen!)  und nehmen die Handys erst von unseren Ohren weg, als wir die Hände brauchen, damit wir uns umarmen können. Ähm, muss ich hier noch erwähnen, dass uns die Fußgänger auf dem Bürgersteig nur im Weg gestanden hätten und wir uns darum beide für mitten auf der Straße entschieden? Und dass wir daran auch nicht so schnell etwas geändert haben? Natürlich kamen da auch Autos, aber die haben alle sehr geduldig gewartet. Vielleicht haben wir die aber auch mit unserem Auftritt nur so erschreckt, dass sie sich einfach nicht trauten zu hupen!

 

Oh, aber das muss ich jetzt noch erklaeren: Silke haben wir vor zwei Jahren ein paar Tage vor Santiago getroffen und wir sind den letzten Teil des Weges gemeinsam gegangen. Am letzten Tag vor Santiago hatten wir die Wahl entweder  in zwei Tagen die letzten Kilometer zu gehen und alleine auf dem Monte do Gozo anzukommen, oder 36 km an einem Tag zu gehen und abends mit ihr und anderen Pilgern aus unserer "Blase" zu feiern, dass wir fast da sind. Dreimal duerft ihr raten, was wir gemacht haben! Und wir hatten einen sehr froehlich-traurigen Abend, froehlich, weil wir stolz waren ohne Ende, und traurig, weil es nicht nur froehlich ist, wenn man in Santiago ankommt und denen, mit denen man so viele Eindruecke geteilt hat, Ade sagen muss.

Jedenfalls haben wir uns seither nicht mehr aus den Augen verloren. Als ich letztes Jahr losging, hat sie uns noch einmal besucht und mir einen guten Weg gewuenscht. Und als ich jetzt losging, habe ich ihr natuerlich auch von meinen Plaenen geschrieben. Daraufhin hat sie sich 24 Stunden lang in einen Bus gesetzt  und ist einen Tag nach uns in Burgos angekommen - an dem Tag, als wir zum Aufwärmen mal eben 36 km gelaufen sind. Und ich hab das nicht mitgekriegt, weil ich ein bisschen Schwierigkeiten mit meinem Handy hatte. Dann ist sie uns bis hierher hinterhergelaufen. Hier musste sie uns kriegen, denn hier übernachten fast alle Pilger. Und sie hat es geschafft.

 

Wie bekloppt muss man sein so etwas zu machen, oder? Ist das der Hammer? Es ist unglaublich! Und für mich wird es immer unglaublich bleiben, dass sie das - natürlich auch für sich selbst, aber so ein bisschen doch auch - für mich gemacht hat. Das ist ein Geschenk.

 

Natuerlich verbringen wir den Rest des Tages miteinander. Wir nehmen Silke auch mit zu unserem Meeting, das fuer mich zum absoluten Higlight in dieser Herberge gehoert: Alle, die wollen (alle duerfen aber keiner muss), sitzen im Kreis und erzaehlen, woher sie kommen und warum sie auf dem Weg sind. Es gibt zwei Geschichten, die mich besonders bewegen (und weil ich weiss, dass die von der einen Geschichte frueher oder spaeter hier lunst, druecke ich sie an dieser Stelle genetzt ganz lieb!).

 

Oh, und da gibt es eine Geschichte, die bewegt auch mein Blut ... und zwar auf direktem Weg zurück in meine pochende Halsschalgader: Wir stellen uns ja auch mit Namen vor und da ist einer, der heißt Jakob und ich entdecke ihn erst, als er spricht (na, nun meckert nicht, schließlich sitzt Silke neben mir und bei dem Feuerwerk in meinem Kopf können halt die Äuglein nicht mehr so gut gucken). Jakob, für den gab es gestern in der Herberge in Fromista einen Anruf von zu Hause. Weil der Herbergsvater so gar nicht Deutsch konnte und die Anruferin wohl so gar kein Spanisch, bin ich irgendwann ans Telefon gegangen und habe ihr gesagt, dass ich Jakob zwar im Ort gesehen habe, dass er aber nicht hier schläft. Als ich also jetzt Jakob entdecke, werde ich doch ein bisschen unruhig: Ob er weiß, dass er angerufen wurde? Ob sie ihn erreicht haben?

 

Ungeduldig warte ich, bis die Vorstellungsrunde sich die Treppe nach oben schlängelt (es sind so viele da, dass die Plätze auf den Bänken lange nicht ausreichen) und schleiche mich dann leise zu ihm, also einmal quer durch den Raum. Was ich jedoch nicht bedacht habe ist, dass da unten ja auch noch zwei Herren stehen, die sich jetzt auch noch zu Wort melden. Also, die habe ich schlicht nicht wahrgenommen. Und dabei habe ich mich doch selbst so beherrscht und jetzt tappsel ich denen mitten vor die Latüchte und merke es nicht einmal, weil mein Kopf neben dem Feuerwerk nur ein ganz kleines Fitzelchen Platz für Jakob und sein Telefonat lässt.

 

Wir flüstern ganz kurz und ganz leise, dann schleiche ich wieder zurück, wieder durch die Latüchte, wieder ohne es zu merken und werde doch prompt von einem Deutschen angeraunzt: It's not nice. Der hat mich vorher schon dusselig von der Seite angeschnoddert, weil halt mein Popo ein bisschen unruhig war. Aber Hallo! Der hat ja auch heute jeden Grund, unruhig zu sein, oder? Und Hallo! Wie spricht der denn mit mir? Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr, das man schimpft, weil es nicht "die schöne Hand" geben will (uuuuh, das hat mir als Kind viel Ungemach eingebracht, aber meine "schöne Hand" war meistens mit wichtigeren Dingen beschäftigt als damit, sie einer ollen, trulligen "Tante" zu reichen, z. B. damit Gummibärchen in sich zu verbergen oder einen Teddy zu halten oder mit dem Finger in der Nase zu bohren (das geht mit rechts viel besser als mit links!)). Hallo! Ich bin erwachsen und muss mich nicht mehr abwatschen lassen. "Ich bin eine Dame, Sie Arschloch!" (Ich muss mir unbedingt merken, dass ich mir das Buch von Thomas mitbringen lasse, wenn wir uns zum Urlaub treffen!) (Nachtrag: Hab ich dran gedacht und es gelesen, aber ich war ein bisschen enttäuscht: Es ist eine Zusammenstellung mehr oder weniger (meist weniger) lustiger Dialoge, aber wirklich witzig ist eigentlich nur der Titel.)

 

Danach verbringen wir natuerlich einen wunderbaren Abend, sitzen, reden, trinken vino tinto ... bis um 21.30 Uhr, weil dann muss Silke los, damit sie nicht ausgesperrt wird (obwohl, wenn die das mit ihr gemacht haetten, haette ich nur zu gerne mein Bett mit ihr geteilt; ich mag sie eh nicht loslassen).

 

Heute werde ich sehr gut schlafen!